Tante Mitzi oder das 20. Jahrhundert – Gerhard Gutruf
Titel: Tante Mitzi oder das 20. Jahrhundert
Künstler:in: Gerhard Gutruf (1944-)
Material und Technik: Öl auf Leinwand auf Holz, 199 x 259,6 cm
Entstehungsjahr: 2002
Inventarnummer: GM1027
Das Werk ist rechts unten signiert.
Unterstehend finden sich ausführliche Kommentare des Künstlers zum Werk sowie Beschreibungen der 41 Einzelbilder.
Homepage des Künstlers: http://www.gutruf.at/ar_o_wei.htm
Bildlegenden zum Leben von Tante Mitzi
1. 1900: GEBURTSHAUS
Altes AKH Wien, Alserstraße, nach einer Postkarte des Aquarells von Erwin Pendl, 10.IX.1900. Geburt von Tante Mitzi (Maria Wittmann)
2. DIE GROSSELTERN
Nach einem Foto der Großeltern väterlicherseits von Tante Mitzi (Wittmann aus Schöngrabern)
3.SCHÖNGRABERN
Detail der Apsis-Reliefs der Pfarrkirche von Schöngrabern
4. DIE HABSBURGER MONARCHIE
Landkarte Österreich-Ungarns zur Zeit der Geburt von Tante Mitzi
(Die Habsburger Monarchie von 1815 . 1919, Atlas zur allgemeinen und österreichischen Geschichte, 3. Auflage, Verlag Hölzl, Wien)
5. PORTRÄT VON SIGMUND FREUD
1900 erscheint als 1. Werk der Psychoanalyse seine „Traumdeutung“
6. PORTRÄT ALBERT EINSTEIN
u.a. 1905 spezielle Relativitätstheorie
7. DIE ELTERN
Rosalia Wittmann (geb. Rom, geb. 1876 in Lichtenbach bei Gottschee – 1962 Wien. Franz Wittmann, geb. 1872 in Schöngrabern – 1954 Wien)
8. 1901/1902: TANTE MITZI
als Kleinkind; Foto: Ferdinand Kral, Wien (eigentlich Mama mit 9 Monaten)
9. 1906: PABLO PICASSO
„Selbstbildnis mit Palette“, 1906, stereometrische Reduktion der Form, Vorstufe für die Entwicklung der „Multiplanperspektive“ des sogenannten Kubismus
10. 1914/15: KASIMIR MALEVICH
„Schwarzes Quadrat“ ÖL/Leinwand, 79,5 x 79,5 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau
radikale konkrete Kunst: Bild als Objekt
11. 1911: TANTE MITZI – ERSTKOMMUNION
12. 1914/15: TANTE MITZI – FIRMUNG
13. SCHMIEDE –WERKSTATT
In Wien X., mit Karl Braunstingl, geb. 1893 im Wiener AKH – 1959 Baden („Onkel Karli“) links vorne; Foto: Atelier Fritz Hrad, Wien
14. 1914-18: ERSTER WELTKRIEG
Onkel Karli in Uniform
15. 1920: HOCHZEIT
Ansicht der barocken „Rauchfangkehrerkirche“ St. Florian auf der Wiedner Hauptstraße (demoliert 1965) – Heirat von Onkel Karli und Tante Mitzi 1920 in dieser Kirche
16. 1919/20: TANTE MITZI ALS FESCHES MÄDEL
17. 1920: WIEN
Ausblick vom Oberen Belvedere; Übersiedlung Tante Mitzi und Onkel Karli nach Baden/Wien, Vöslauerstraße 36
18. BADEN
Blick über Baden vom Kurpark aus (Postkarte des Wiener Kunstverlags E. Schreier, Wien, ca. 1920-25)
19. 1923 TANTE MITZI MIT IHRER TOCHTER MARIA
(genannt Susi) Braunstingl (geb. 1921 in Baden – 1998 Baden)
Foto: P. Ergisser, Baden, Jänner 1923
20. 1929: TANTE MITZI MIT SUSI UND ONKEL KARLI
Foto: Knozer, Baden
21. 1936: TANTE MITZI, ONKEL KARLI, SUSI
Foto: Knozer, Baden
22. 1941: TANTE MITZI IM SOMMER
23. 1939-45: 2. WELTKRIEG
Ruine des Portikus der Weilburg in Baden. Die Reste dieses kunsthistorisch so wertvollen Schlosses wurden unter Bürgermeister Viktor Wallner im August 1964 gesprengt.
24. 1945: ATOMBOMBE
Die erste Atombombe wurde im August 1945 über Hiroshima abgeworfen
25. 1945: HOLOCAUST
Ono of the Communal Graves of Belsen’s Concentration Camp near Bremen 1945. Foto aus Memoire des Camps, photographies des Camps de concentration et d’extermination nazis (1933-1999) Katalog der Ausstellung im Fotomuseum Winterthur 2001, direction Clement Chéroux
26. 1947: TANTE MITZI UND ONKEL KARLI
Foto vom 4.V.1947 in Baden
27. ONKEL KARLI BEI DER ARBEIT
Karl Braunstingl betätigt sich als Hufschmied vor der Werkstatt Vöslauerstraße 36
Foto: Gutruf, Ausarbeitung Paul Schneider, ca. 1952-54
28. 1941: ONKEL KARLI UND TANTE MITZI AUF DEM MOTORRAD
Foto vom Dezember 1941
29. 1956: ONKEL KARLI, SUSI und TANTE MITZI
30. 1956: FAMILIE BRAUNSTINGL, GERHARD GUTRUF
von links: Susi, Gerhard Gutruf, Onkel Karli, Tante Mitzi und vorne „Petzi“
31. 1956: FAMILIENTREFFEN IN BADEN
von links, hintere Reihe: die Mutter des Künstlers Anna Gutruf (geb. Wittmann, 11.V.1913 – 17.II.1989), Onkel Karli, Tante Mitzi, Susi, Lotte Wittmann (Frau von Josef Wittmann, Schwägerin Tante Mitzis), Leopoldine Berg (geb. Wittmann, 1907 – 94, Schwester Tante Mitzis), Josef Wittmann (1916 – 96, jüngster Bruder Tante Mitzis)
von links, vorne: Otti (Otto Gutruf, der Bruder des Künstlers, geb. 1942), Gerhard Gutruf mit Petzi, Elisabeth Wittmann (Tochter von Josef und Lotte Wittmann, Cousine Gutrufs), Ludwig Wittmann (Sohn von Josef und Lotte Wittmann, Cousin Gutrufs)
Foto vom 8.VII.1956
32. 1958: TANTE MITZI UND ONKEL KARLI
Das Bild entstand nach einem der letzten Fotos, das das Ehepaar Karl und Maria Braunstingl zeigt. Ein Jahr später stirbt Onkel Karli 66-jährig an Krebs.
33. MONDLANDUNGEN
Die erste Mondlandung erfolgte am 20. Juli 1969: Apollo 11-Mission.
Das Vorlagen-Foto dieses Bildes stammt von der zweiten Mondlandung im November 69 und zeigt den Astronauten Alan Bean im Sharp Crater im Ozean der Stürme
Foto: Charles Conrad, Kommandant von Apollo 12, NASA
Zusätzlich wird auf dem Mondlandungs-Bild die Mondfähre Orion nach einem NASA-Foto der Apollo 16-Mission (16. – 27. April 72) gezeigt.
34. 1975: TANTE MITZI
Foto von einem Ausflug im Mai 75
35. 1980: 80. GEBURTSTAG
Ausflug der vier Schwestern anlässlich von Tante Mitzis 80. Geburtstag.
von links: Anna Gutruf, Tante Mitzi, Tante Rosi (Rosalia Biringer, geb. Wittmann, 1903 – 98), Tante Poldi (Leopoldine Berg)
36. 1983: BESUCH IN MINICHHOFEN
Besuch von Tante Mitzi, Susi, Josef „Pepi“ Hain, Mann Susis, und den Schwestern Toni, Frieda und Trude Bahsler im Gutshof Minichhofen (Weinviertel, NÖ) im Sommer 1983. Auf dem Gemälde bläst Pepi von den Arkaden herab eine Posaune.
37. 1990: 90. GEBURTSTAG VON TANTE MITZI
Das Anschneiden der traditionellen Geburtstagstorte im festlichen Rahmen, auf dem Foto links daneben Josef Hain.
38. DER „BLAUE“ PLANET
Totalansicht der Erde, zum ersten Mal gesehen und fotografiert von den Astronauten der Apollo 17-Mission (17. – 19. Dezember 1972).
Allegorie für die überlebensnotwendige Erkenntnis der engen Lebensgemeinschaft auf unserem Planeten. Foto: Harrison Schmitt, NASA
39. 1996: TOCHTER UND MUTTER
Susi und Tante Mitzi im Oktober 1996.
Das entsprechende Foto wurde in der Küche der Badener Wohnung aufgenommen. 1997 übersiedelten die Beiden in eine Seniorenpension.
1998 stirbt Susi an Krebs. Tante Mitzi wacht am Totenbett ihrer Tochter.
40. 1999: TANTE MITZI IM KOMA
Das Ölbild entstand nach einer Studie von Gerhard Gutruf, 31.III.99, 18,45 Uhr, Bleistift, 14,9 x 20,7 cm.
Die letzten Tage ihres Lebens lag Tante Mitzi im Koma. Am späteren Abend des 2. April 1999 ließ der Künstler einen Priester kommen; eine halbe Stunde nach Empfang der letzten Ölung entschlief sie.
41. 1999: TANTE MITZI AUF DER TOTENBAHRE
Bleistift-Studie, 3.IV.99, 11,30 Uhr, 20,9 x 29,6 cm
Bild: Öl/Lw, 199,2 x 199,2 cm, 2001
Am Morgen nach dem Tod Tante Mitzis entstand in der kleinen Abstellkammer der Badener Seniorenpension Jakel die Studie zu diesem Ölbild. Erschütternd war der Unterschied zum vorhergehenden Zustand, als Tante Mitzi noch – wenn auch schon entrückt – lebte: der zarte Körper erschien jetzt vollkommen entfärbt, erstarrt, aufgebäumt, wie nach einer letzten großen Anstrengung. Der Brustkorb war nach oben durchgedrückt, als ob sie ihre Seele dem Himmel dargeboten hätte.
Gerhard Gutruf : Ein kurzer Rückblick auf ein langes Leben
TANTE MITZI oder DAS 20. JAHRHUNDERT
Tante Mitzis praktisch das ganze 20. Jahrhundert umspannende Dasein spiegelt im Kleinen ein bezeichnendes österreichisches Frauenschicksal. Sie machte „schon einiges mit“, wie sie es selbst bescheiden formulierte, erlebte soziale und politische Veränderungen wie keine Generation vorher, zwei furchtbare Weltkriege, technische Fortschritte und deren Folgen – in einer bis dahin unbekannten Rasanz und Dimension.
Als Maria Wittmann kam sie als zweites von neun Kindern am 10. September 1900 im Allgemeinen Krankenhaus in Wien Alsergrund zur Welt.
Im selben Jahr formulierte u.a. Max Planck seine die Physik und das 20. Jahrhundert revolutionierende Quantentheorie, veröffentlichte Sigmund Freund die „Traumdeutung“ und stieß damit die Pforten zu einer bis dahin unerforschten inneren Dimension des Menschen auf, erfand Carl Auer von Welsbach die Osmium-Glühlampe als Weiterentwicklung seines Gasglühlichts in der ehemaligen Gutruf’schen Posamenten- und Strumpffabrik in Alt-Erlaa.
Marias Mutter Rosalia Wittmann, geborene Rom, stammte aus Lichtenberg im Bezirk Gottschee des ehemaligen Herzogtums und Kronlands der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Krain. Sie kam 1898 nach Wien, gerade rechtzeitig, um das Begräbnis Kaiserin Elisabeths von einem Laternenmast aus beobachten zu können. Sie erhielt schließlich eine Stelle als Stubenmädchen bei Baronin Brunswick in deren Palais auf der Wiedner Hauptstraße.
Ihr Vater Franz Wittmann stammte aus Schöngrabern bei Hollabrunn im Niederösterreichischen Weinviertel. Er erlernte das Bäckerhandwerk und arbeitete in der Ankerbrotfabrik in Wien-Favoriten. Die heranwachsende Maria half tatkräftig bei der Aufsicht und Erziehung ihrer jüngeren Schwestern Rosi, Poldi und Anni sowie des kleinen Bruders Pepi; vier weitere Geschwister starben sehr jung.
Im Oktober 1920 heiratete Maria Wittmann den Schmiedegesellen Karl Braunstingl, dessen Vater aus Ungarn stammte. Nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Maria, Susi genannt, bezogen sie 1921 das Haus Vöslauerstraße 36 in Baden bei Wien. Ihr Mann übernahm dort den väterlichen Meisterbetrieb für Huf- und Wagenschmiede, oft mit mehreren Lehrburschen und Gesellen, die zum Teil im Haus wohnten und von der Schmiedemeistersgattin auch versorgt wurden.
Tante Mitzi, wie Maria Braunstingl auch von vielen Bekannten liebevoll genannt wurde, arbeitete überall hart mit: ob helfend in der Werkstatt oder bei persönlichen Problemen, bürstend und rumpelnd einmal pro Woche in der Waschküche, räumend oder putzend in der Wohnung und vor allem köstliche Speisen zubereitend in der Küche.
1946 beschloss Tante Mitzi mit Einwilligung ihres Gatten, mich – den zweiten Sohn ihrer jüngsten Schwester – zur Entlastung meiner Mutter vorübergehend aufzunehmen. Ich durfte schließlich bis zur Rückkehr meines Vaters aus russischer Kriegsgefangenschaft 1954 in Baden bleiben und verlebte dort eine wundervolle Kindheit. Die meiste Zeit verbrachte ich in der Werkstatt Onkel Karlis, fasziniert von den Möglichkeiten der Bearbeitung glühenden Eisens und von den zu beschlagenden Pferden.
1959 erlag Karl Braunstingl einem heimtückischen Krebsleiden.
1964 heiratete ihre mittlerweile viele Jahre im Badener Finanzamt tätige Tochter Susi den Musik-Stabswachtmeister Josef Hain in zweiter Ehe; die beiden verbrachten Jahre glücklichen Beisammenseins im gemeinsamen Haushalt mit der Mutter. Der Schwiegersohn starb 1991.
Im Februar 1998 musste sie den Tod ihrer Tochter schmerzlich zur Kenntnis nehmen.
Die beiden letzten Lebensjahre verbrachte Tante Mitzi in einer Badener Seniorenpension. „Ich denke immer, das gibt es doch nicht, daß schon alles vorbei ist – es muß doch noch etwas kommen ……..“ sinnierte sie noch bei einem meiner letzten Besuche. „Es ist noch so viel zu tun“ sagte sie zwei Tage vor ihrem Tod. Ihre Worte sind mir ein letztes Vermächtnis.
Ermattet von einem langen, arbeitsreichen Leben, versehen mit den Heiligen Sakramenten der Kirche, entschlief sie am Karfreitag, den 2. April 1999, um 21 Uhr im 99. Lebensjahr.
Die ehemalige Schmiedewerkstatt dient heute als Atelier.